Nach Oben

20 Jahre Internet

| Prof. Martin Kreyßig

Einst eine Entwicklung von Universitäten, Instituten, Firmen und nicht zuletzt des Militärs existiert das Internet heute als multiperspektivisches, multimodales, multimediales Sprachrohr, frei und offen für alle, die Zugang haben. Frei bei weitem nicht in allen Nationen. Eine kontrastreiche, spiegelnde multisensorische Hintergrundbeleuchtung, die bei manchem Nutzer bereits die Welt als Realität, als Vordergrund ersetzt zu haben scheint.

Seit einigen Jahren existieren unter den Netcitizens nicht wenige Netjournalists, die Berichterstattung direkt von der Strasse aus betreiben, medial apostrophiert als „Citizen Journalism“ oder „Citizen Media„. Zu Anfang von den großen Networks belächelt und vielfach auch vollkommen zurecht wegen der Einseitigkeit der Beiträge kritisiert, greifen ebendiese nationalen oder internationalen Medienproduzenten heutzutage immer häufiger auf authentische Beiträge der „Strasse“ zurück.

Jetzt nennt man sie (selbstbewusst) Nutzer und ihre Aktivitäten changieren zwischen ikonografischen Abstimmungsritualen, die eher an Massenpsychosen erinnern (finde ich gut) und unredigierten, schier endlosen Blogbeiträgen mitteilungsverliebter Egomanen, Marke: me, myself and I. (sic!)

Mittlerweile via Facebook und Twitter mit dem smarten Mobilphonenutzer zusammengewachsen, zeigen zuletzt die Aufstände und Revolten in einigen arabischen Staaten, wie sich aus privaten Mitteilungen politische Treffen formieren, wie individuelle Interessen auf Demonstrationen zu öffentlichen Protesten werden: immer noch die direkteste Form politischer Äußerung, initial vernetzt.

Ein aktuelles Beispiel medialer und damit politischer Arbeit im Internet – unter unzähligen Beispielen – ist die
Textinitiative der Japanologie Leipzig, Japanologie Frankfurt und Japanologie Zürich
. Wenn die politische Berichterstattung nicht recht funktionieren will, wie im offiziellen Japan, die Lücken also zwischen den Wahrheiten zu groß werden, bringen die Eigeninitiativen von Bürgen, Künstlern, politischen Interessierten, Journalisten oder, wie bei dieser Nachrichtensammlung, auch Wissenschaftlern etwas Licht ins Dunkel.

Im Falle der atomaren Katastrophe in Japan, in der immer auch das kollektive Erleben der beiden Atombombenabwürfe mitgedacht werden sollte, werden medienpolitische Aspekte des Umgangs mit Katastrophen besonders deutlich:

„Ziel der Initiative ist, einhergehend mit dem aufklärerischen Aspekt, auch die Schulung kritischen Denkens: Extremereignisse bzw. Krisensituationen in (post-)modernen Gesellschaften sind zum einen inhaltlich eine Herausforderung, mit der es sich lohnt auseinandersetzen, die uns zwingt, gewohnte Denkmuster und analytische Instrumentarien in Frage zu stellen.“

„What Japan’s calamity, most of all, the agony of the people embodies has less to do with the nationality than the entire capitalist regime that seems to persist in relying on atomic energy. The question here is: if green capitalism, a better capitalism is possible by ousting nuclear power plants; or today’s global capitalism is so much netted with the technology whose indispensable part is the atomic energy that ousting nuclear power plants is equal to ousting capitalism itself or something that might be considered as the planetary apparatus whose driving force is capitalism. These questions notwithstanding, the truth is revealed only as what the people of Japan and the entire world do from now on.“ (cit.)

Die initiale Idee der Internvordenker vor zwanzig Jahren, den passiven Medienkonsumenten mittels dieses großartigen Mediums in einen partizipierenden Produzenten, selbstständig denkenden und medial handelnden Autoren umzuschmelzen – hier ist wieder einmal gelungen. Mission gestartet.