Nesting
Gestern habe ich ein Nest entdeckt. Auf meinen Schleichwegen durch die Räume der Medieninformatik schreckte ich zwei Studierende auf, die im Interfacelabor zusammen saßen und arbeiteten. Catharina Keffel und Stefanie Schmoldt, MI-Jahrgang 2006. Umringt von Keksen, Früchten, Schachteln, Kaffeetassen saßen sie über ihren Büchern, Notizen, Aufzeichnungen zur Bachelorarbeit. Ein wunderschön anzusehendes Durcheinander, das ich vergessen habe sofort abzulichten. Heute früh war alles verschwunden, als sei nichts gewesen.
So muss ich zur Metapher greifen und die Arbeit von Allan Kaprow ins Spiel bringen, der eines der elementaren Notwendigkeiten der automobilen Gesellschaft, den Reifen 1959 zuhauf in eine Galerie rollte und so die Überlegungen vom „Rasenden Stillstand“ von Paul Virilio als begehbare Plastik vorwegnahm.
Das Nest: Vorräte, Sammlung, Aufzucht, Wachstum, Konzentration dann Ausgangspunkt von Erkundungsflügen, Expeditionen, schließlich Abflug, Loslösung, Vergangenheit, Erinnerung. Vorbei. Mehr bietet so ein Studium im besten Fall nicht und die Bachelorarbeit bildet den letzten Anstieg hinauf zum Katapult, von dort aus niemand zurückkehrt.
Gut so, denn das ist der Auftrag an uns Dozenten und die Aufgabe etwa für die Studierenden der Medieninformatik. Sie haben es gut, weil sie fast alle anspruchsvolle Jobs zum Berufseinstieg erhalten, die erste Chance wahrnehmen und sich dort bewähren. Aber manchmal wäre ich sehr froh, die Arbeitgeber kämen ihrer Sorgfaltspflicht stärker nach, in dem sie die Praktikanten ermuntern, ihren Abschluss zu machen. Denn den Studierenden muss deutlich sein, dass nur das Abschlusszeugnis die Mühen eines Studiums umfassend dokumentiert.
Unsere Wirtschaftsordnung, in der und von der wir hier ziemlich gut und fett leben, ist uns nicht nur freundlich gesinnt. Sie stellt uns alle in einen zunehmend globalen Wettbewerb mit vielen anderen Nestflüchtern, immer mehr auch aus anderen Ländern mit hervorragenden Zeugnissen, die gerne auch mehrsprachig zwitschern. Diese Wirtschaftsordnung bewegt sich in Wellen und Tälern, sie liegt schnell am Boden, ist im nächsten Moment euphorisch und dann flattert sie wieder ohne Ziel und Atem vor sich hin. Heisst für uns: zu viel Arbeit, weniger, keine Arbeit, umlernen, umdenken, neu lernen, wieder anbieten, zu viel Arbeit – ein Zyklus. Dabei bleiben in den Schwächephasen einer konjunkturellen Flugbahn diejenigen auf der Strecke, die keinen akademischen Abschluss vorweisen können. Jene, die nicht dokumentieren können, dass sie in der Lage sind, eine 40- 60 Seiten umfassende wissenschaftliche Arbeit zu schreiben, die nicht belegen können, dass sie sich einen Stoff in drei Monaten aneignen und angemessen wiedergeben können, die nicht die richtigen Schlüsse aus ihren Überlegungen zu ziehen in der Lage sind.
Das Nest zu verlassen ist prima, aber bitte nur mit dem Zeugnis im Schnabel, sonst droht der freie Fall.