The Wrong Man
Manchmal zerfällt die Welt in zwei Teile. Der unbescholtene Musiker Christopher Emmanuel Balestrero wird mit einem Serientäter verwechselt und muss seine Unschuld beweisen. Zusammen mit seiner Frau macht er sich auf, Zeugen zu finden. Doch wie verzweifelt sie auch suchen, kein Alibi, kein Zeuge entlässt ihn aus seiner vermeintlichen Schuld. So fällt seine Frau zermürbt durch diesen Schicksalsschlag (oder war es prospektive Vorsehung?) in Agonie, wird psychisch krank und zerbricht. Der gläubig-obrigkeitshörige Balestrero, gespielt von einem perfekt besetzten Henry Fonda, kämpft weiter mit dem Gesicht des naiven Langweilers. So, wie er vollkommen unbeteiligt im Nachtclub den Bass zupft, beharrt er trotzig auf seiner Unschuld. Doch es gelingt ihm nicht, ein wasserdichtes Alibi zu beschaffen. Der Zufall, wiederum dieses Werkzeug höherer Wesen, hilft ihm, denn der wirkliche Seriengangster braucht Geld, überfällt einen Laden und wird geschnappt.
Im letzten Wintersemester hatten wir uns in der BFO Filmgeschichte acht Filme von Alfred Hitchcock angeschaut und die Analysen von Slavoj Žižek bemüht, diese Werke unterhaltsamer Psychonanalyse zu durchdringen. Žižek sieht Hitchcock zurecht an der Nahtstelle zur Moderne, denn er als erster bezieht den Zuschauer als das notwendige Dritte in die Dramaturgie mit ein. The Wrong Man entlässt den Zuschauer keinen Moment aus der Spannung, aus der Angst oder dem Mitleid um dieses hilflose Insekt, wie es sich unbeholfen immer weiter im Netz der Verdächtigungen und falschen Aussagen gegen ihn verstrickt. Das Publikum wünscht zum Ende Erlösung, egal, ob er jetzt schuldig ist oder nicht, nur nicht weiter im Unklaren bleiben. Aus dieser Anteilnahme des Zuschauers gewinnt Hitchcock Neugier, Empathie, Emotion, Spannung, kurz: Suspense. Auch wenn man sich nicht mit diesem stocksteifen Familienvater identifiziert, leidet der Betrachter an seiner Unschuld und mehr noch, an der eigenen Unfähigkeit, ihm nicht helfen zu können.
Der Begriff „emotionale Intelligenz“ umschreibt partizipative Prozesse während der Rezeption des zumeist passiven Mediums Film oder TV, wenn es gelingt, Gesichter, Schicksale und Handlungsmuster zu präsentieren, deren Authentizität so mächtig wirkt, dass man sich ihr nicht entziehen kann. Dies können Realityshows sein, Selektionsshows (GNTM) oder attraktive Sportereignisse. Steven Johnson stellt eine überzeugende Reihe gut recherchierter Beispiele in seinem Buch „Everything Bad Is Good For You“ zusammen, die deutlich machen, dass Medien wie Film, TV, Internet, besonders aber Videospiele beim Zuschauer eine ganze Reihe kognitiver Prozesse fördern, deren Wirksamkeit diesen Medien durchaus zur Ehre gereicht. Anders, als die meisten oberflächlichen Kritiker, sucht Johnson nachzuweisen, dass medial erlerntes Verhalten etwa die Fähigkeit zur Orientierung in sozialen Netzwerken durchaus fördert.
Vor zwei Tagen bekam ich eine Zeugenvernehmung zugeschickt, die mir vorwirft, am 20. Februar 2010 um 17.35 Uhr auf der BAB A1 Bremen Richtung Hamburg 23 km/h oberhalb der zulässigen Höchstgeschwindigkeit gefahren zu sein. Dazu zwei untrügliche Fotos, wie man es kennt: mein Gesicht am Steuer des Wagens und das des Kennzeichens. Es war das Wochenende, an dem ich mit vielen Studierenden (Zeugen?) im Studio in Wernigerode für einen Dreh gearbeitet habe. Weder trage ich auf dem Foto einen Hut noch einen Trenchcoat, aber es beschleichen mich seither tiefe Zweifel bezüglich (m)einer unteilbaren Identität.